Reliquie

Der Verfasser des Lenin'schen Trauermarschs

(Aus der Zeitschrift "Sowjetskaja Musyka" 1 / 1974)

Обложка "Ленинского траурного марша"
Ленинский траурный марш лист 1
Ленинский траурный марш лист 2
 

 

Владимир Яковлевич Вульфман
Владимир Яковлевич Вульфман
Владимир Яковлевич Вульфман

Wladimir Wulfmann

Vor einem halben Jahrhundert ward unser ganzes Land und die ganze fortschrittliche Menschheit von tiefem Leid getroffen. Am 21. Januar 1924 verstarb der große Führer der Revolution Wladimir Iljitsch Lenin. Das Zentralkomitee der Partei wandte sich an alle Werktätigen mit der Mitteilung vom Tode Lenins. „Es verstarb der Mensch,“ – hieß es in dieser Mitteilung, - „welche unsere stählerne Partei gegründet hat und sie von Jahr zu Jahr ausbaute… Noch nie hat, seit Marx, die Geschichte der großen Freiheitsbewegung des Proletariats eine solch gigantische Gestalt hervorgebracht.“

Heute sind nur noch wenig Zeugen jenes endlosen Stroms von Menschen übrig, die in klirrendem Frost hingingen, um sich von Lenin zu verabschieden. Am Tag der Beerdigung stand fünf Minuten lang der Verkehr still, alle Fabriken, Produktionsstätten hielten in ihrer Arbeit inne. Der Radiosender des Komintern erließ um 16 Uhr Moskauer Zeit den Aufruf: „Erhebt euch, Genossen! Iljitsch wird ins Grab gesenkt.“ Und um 16 Uhr 4 Minuten tönte es um die ganze Welt: „Iljitsch ist tot – doch der Leninismus lebt!“ – Der Posten Nummer 1 am provisorisch eingerichteten Mausoleum wurde von der ersten Ehrenwache eingenommen. Und die ganze Trauerzeremonie hindurch spielten die Radiosender der Sowjetunion die Melodie des Marsches, welcher anläßlich des Todes von Iljitsch komponiert wurde.

Ich unterhalte mich mit dem Verfasser dieses Marsches, dem betagten Komponisten und Inhaber einer persönlichen Rente Wladimir Jakovlewitch Wulfmann.

„Ich lebte damals in Rostov am Don,“ – erzählt Wladimir Jakowlewitch und holt einen Ordner hervor, darin er sorgfältig Fotos, Zeitungsausschnitte und Unterlagen jener Jahre aufbewahrt. Darunter auch die Noten der ersten Ausgabe jenes Marsches.

„Vom Tod Wladimir Iljitschs erfuhr ich draußen an dem frostigen Abend des 21. Januar 1924. Ich sah Gruppen aufgeregter Menschen, verstörte Gesichter. Ich hörte die Worte: „Lenin ist tot.“ Diese Nachricht erschütterte mich. Ich ging zurück nach Hause, eine schwere Last auf der Seele, setzte mich ans Klavier und begann zu spielen, - und allmählich schälte sich eine Melodie heraus. Gegen fünf Uhr morgens spürte ich Müdigkeit, aber ich konnte nicht schlafen. Die Melodie ging mir nicht aus dem Sinn, im Bewußtsein erstand vor mir der lebende Iljitsch. Am Morgen des 22. Januar fuhr ich fort mit dem Komponieren des Marsches. Ich verstand, welche Verantwortung ich auf mich nehme, und arbeitete mit großer Strenge zu mir selbst. Am 23. Januar war der Marsch fertig. Der erste Teil, ein klangvolles piano im Tempo Andante maestoso, spiegelte die Erschütterung und das Leiden wieder, welche das Volk bei der Nachricht vom Tod seines Führers empfand; im zweiten Teil wollte ich die Größe der Leninschen Ideen wiedergeben. Der dritte Teil (Lento) ist in Dur gehalten: das ist in gewisser Hinsicht der Übergang von den Tränen und der Wehmut zu dem Bewußtsein, daß alle Errungenschaften Iljitschs lebendig sind, daß seine Ideen siegen werden. Im Finale schließlich kehrt das Trauermotiv zurück und zeichnet das Bild des Abschieds des Volks von seinem Führer. Auf das Deckblatt des Manuskriptes schrieb ich, innerlich stark bewegt und stolz, die Widmung: „Dem großen Führer der Revolution Wladimir Iljitsch Uljanov-Lenin.“

Am 24. Januar faßte die Rostower künstlerische Sektion des Präsidiums der Vereinigung Rabis den Entschluß, meinen Marsch zu veröffentlichen. Auf das mir zustehende Honorar verzichtete ich, und alle finanziellen Mittel ließ ich an den Fond zur Verewigung des Gedenkens an W.I. Lenin abführen, welcher auf Ordnung des Zentralkomitees der Partei auf der zweiten Versammlung der Räte der UdSSR, gleich nach dem Tod von Iljitsch, geschaffen worden war.

Die Rostower Notendruckerei bereitete sehr schnell die Druckerpressen, das Papier und die Druckvorlagen vor. Die Frage kam auf nach der Gestaltung des Titelblatts. Jemand schlug vor, ein Portrait Lenins abzudrucken; und man brachte den Stich, welchen man nun auf dem Umschlag der ersten Auflage sehen kann. Der Name des Künstlers blieb leider unbekannt.

Die ganze Nacht des 24. Januar waren die Arbeiter der Druckerei unentwegt am Arbeiten. Jeder wußte, daß er dem geliebten Führer die letzte Ehre erweist. Die ersten Exemplare der Noten, welche die Maschinen verließen, wurden schnell verpackt und in die verschiedenen Städte unseres Landes geschickt.

Am Morgen des 25. Januar in der Rostower Zeitung erschien die Mitteilung, daß in allen Musikgeschäften der Stadt die Noten des Trauermarschs verkauft werden, mit dem Hinweis, daß der ganze Erlös dem Fonds zur Verewigung des Gedenkens an Lenin zugutekommt.

In all den folgenden Jahren erklang am Gedenktag des Todes von W.I. Lenin auf den feierlichen Trauerveranstaltungen der Marsch von Wulfmann.

Zehn Jahre später wurde das Werk neu aufgelegt. Auf dem schwarz gerahmten Titelblatt der zweiten Auflage sah man auf dunkelrotem Hintergrund eine Abbildung des Mausoleums, darunter die Aufschrift: „Trauermarsch zum Tode des großen Führers der proletarischen Weltrevolution Wladimir Iljitsch Lenin“. Auf der Rückseite des Titelblatts war ein Portrait des Komponisten W. Ja. Wulfmann mit dem Text: „Der erste Verfasser des Leninschen Trauermarschs[1]“.

Zur Feier des hundertsten Geburtstags von Lenin im Januar 1970 gab die Georgische Abteilung des Musikfonds der UDSSR den Marsch heraus, und im April wurde eine Aufzeichnung des Marsches gemacht mit dem Symphonieorchester des Georgischen Rundfunks und Fernsehens (Dirigent S. Korkotaschwili). Die Aufzeichnung wurde der Tiflisser Filiale des zentralen Leninmuseums übergeben.

Fotos, Plakate, Dankschreiben, Urkunden, Aufsätze legen Zeugnis ab von dem großen, interessanten und edlen Leben Wulfmanns. Von Kindheit auf beschäftigte er sich mit Musik. Mit fünfzehn Jahren begann er zu arbeiten. An der Schwelle zur Revolution wurde zum ersten Mal eine Komposition von Wulfmann gedruckt: der Marsch „Freude“. Im Jahre 1918 begann Wladimir Jakowlewitch an der eben erst gegründeten Donischen Philharmonie eine Tätigkeit als Klavierbegleiter und Improvisierer und betätigte sich gleichzeitig als Komponist (zu jener Zeit wurden Lieder von ihm veröffentlicht und aufgeführt, wie, zum Beispiel „Oktober“, „Rattern der Maschinen“, „Der Zug“, „Die rote Armee“, welche den Leistungen der jungen sowjetischen Republik gewidmet waren), reiste mit Konzerten in die Arbeiterviertel des Donbass und die Stanizen des Don.

Im Jahre 1927 schickt ihn die Gewerkschaft Rabis nach Leningrad in die Musikinstrumentenfabrik „Roter Oktober“, um die Herstellung von Musikinstrumenten zu erlernen. In jener Fabrik arbeiteten hoch besoldete ausländische Fachkräfte; das Land brauchte seine eigenen Fachleute. Und der Komponist durchläuft eine vierjährige Ausbildung vom einfachen Arbeiter bis zum qualifizierten Einspieler von Tasteninstrumenten. Gleichzeitig studierte er am Leningrader Konservatorium, und im gleichen Jahr, also 1927, wird er Mitglied der Leningrader Komponistenvereinigung.

Das Werk von Wulfmann ist vielgestaltig. Er hat eine Reihe Romanzen geschrieben zu Worten von Puschkin, Lermontov, Blok, Jessenin, einen Liederzyklus zu Gedichten von Béranger. Manche seiner Kompositionen sind mit der ihm wohlbekannten kaukasischen Folklore verbunden; zum Beispiel die Suite „Kaukasische Skizzen“, das symphonische Gemälde „Reise durch Armenien“, eine Reihe vokaler Werke.

In den Jahren des zweiten Weltkriegs gab Wulfmann Konzerte für die Frontsoldaten, in Lazaretts, am Rundfunk; auch in Schulen, in den verschiedenen Zentren der Roten Armee und der Pioniere. Mit einer Agitbrigade reiste er zu militärischen Abteilungen, in militärische Lager. In diesen Jahren schrieb er die Lieder „Unsere Front ist unbesiegbar“, „Suworow gleich“, „An das geliebte Mädchen“, der Walzer „Soldatenpfeife“.

Jetzt lebt der Komponist in Tbilissi. In den letzten Jahren arbeitete er als Experte für Musikinstrumente am Büro für Expertisen; unter anderem war er Berater für die Musikinstrumentenfabrik „Sakartvelo“, wo er junge Fachkräfte unterrichtete.

„Den größten Teil meines Lebens habe ich hinter mir,“ sagt Wulfmann, „und obwohl in letzter Zeit die Krankheit mir keine Möglichkeit gibt, mich mit ganzer Kraft dem Komponieren zu widmen, so lebe ich trotzdem nicht ohne schöpferische Arbeit.“

Zur Zeit komponiert er hauptsächlich Improvisationen (früher trat er mit Improvisationen in Konzerten auf, und auf sein Können in diesem Genre hielt A. Goldenweiser sehr große Stücke). Die Bescheidenheit von Wladimir Jakowlewitch kann einen verblüffen. Man spürt, daß das, wovon er erzählt, nur ein ganz geringer Teil seines interessanten vielseitigen Lebens ist. Begegnungen mit Majakovski, Jessenin, Freundschaft mit  Dunayewski und Mordwinov, Zusammenarbeit mit Sawadski, Marezkaya, Plyatt. Der Komponist hat einen Traum, er legt Wert auf eben dieses Wort – denn schwer ist es, in seinem Alter nach schwerer Krankheit von Plänen für die Zukunft zu sprechen.

„Mein Traum ist – einen Sammelband zu erstellen, in welchem zusammen mit ausgewählten Werken auch meine neuen Lieder aufgenommen werden.“

Sh. Danina.

 

… und wie all dies in Wirklichkeit war…

(kommt bald… Ganz allgemein wollten wir noch erwähnen, daß wir es keineswegs als ein Privileg der einstigen Sowjetpublizistik betrachten, durch Vereinfachung oder Uminterpretierung ein verfälschtes Bild der Wirklichkeit zu geben. Jedes Milieu, jede Ideologie hat ihre ganz eigene, spezifische Vorgehensweise, ihren eigenen Stil in diesem Verfälschungshandwerk; die einen grobschlächtig, andere differenzierter, unaufdringlich, so fein unter Umständen, daß man fast nichts merkt)[2]


 

[1] Ein rätselhafter Satz, den ich genau so übersetzt habe, wie er da steht.

[2] Wir meinen, eben: die verfälschende Darstellung der Wirklichkeit durch grobe Vereinfachung oder Uminterpretierung. – Eine Landschaft mit Apfelbaum kann man, zum Beispiel, von Süden oder von Osten her beschreiben; der eine konzentriert die Schilderung auf das Laub, jemand anders interessiert sich für die Entfernung zwischen dem Apfelbaum und dem Wald am Horizont: all dies ist völlig normal und natürlich und gewährt eine interessante Vielfalt sich gegenseitig ergänzender Gesichtspunkte. Doch nicht darum geht es uns; wir meinen, eben, den recht verbreiteten Fall, wo aus Gründen der Vereinfachung oder aufgrund ideologischer Erwägungen der Apfelbaum durch einen Staubsauger oder einen Wolkenkratzer ersetzt wird.

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