Relique

Die literarische Qualität unten wiedergegebenen Aufsatzes mag nicht sehr hoch sein. Er wird hier veröffentlicht, weil er für unseren Zusammenhang (und auch ganz allgemein) interessante Information enthält.

Владимир Яковлевич Вульфман

Der zwanzigjährige Wladimir Wulfmann 1915 in Tbilissi während seines Militärdienstes

 

 
Владимир Яковлевич Вульфман

Wladimir Wulfmann im Alter von 80 Jahren 1975 in Tbilissi

Der „Freudenmarsch“ von Wladimir Wulfmann

(Aus der Zeitschrift „26 wekow“, Februar 2004)

90 Jahre sind vergangen, seit der zu Unrecht des Mordes beschuldigte Jude Mendel Beilis freigesprochen wurde[1]. Neun Jahrzehnte erinnern viele sich immer wieder an diesen historischen Prozeß.

Die Antisemiten und die Schwarzhunderter[2] machten Lärm um den Charakter dieses Mordes, als in einem Kiever Vorort die Leiche des Knaben Andrei Juschtschinski entdeckt wurde.

Anfänglich wurden die Ermittlungen durch gewissenhafte, qualifizierte Ermittler der Kiever Polizei geführt. Doch der Justizminister Schtscheglovitov ließ sie eiligst ablösen. Beim Prozeß wurde M. Beilis vorgestellt als religiöser Fanatiker, welcher in der Fabrik in der Nähe der Mordstelle[3] arbeitete.

Tatsächlich aber war M. Beilis ein Mensch, der sich der Religion gegenüber völlig gleichgültig verhielt und ein voll und ganz weltliches Leben führte. Dies wurde von allen seinen Bekannten bestätigt.

Doch die Schwarzhunderter-Presse griff diese Darstellung des Mordes sofort auf und blähte sie auf, ohne hierzu irgendwelche Grundlagen zu haben.

Zu gleicher Zeit äußerte der Monarchist W. Schulgin sich schroff ablehnend zu dem Versuch, diesen Mord als Ritualmord darzustellen.  Er schrieb: „Der Prozeß ist verfälscht. Man kommt nicht umhin sich zu schämen für den Kiever Staatsanwalt und für die gesamte russische Gerichtsbarkeit, welche riskierte, sich vor die ganze Welt mit solch erbärmlichen Beweisen hinzustellen und so urteilt, wie Sie es tun, die Sie nicht aufhören, Morde entlarven zu wollen. Sie schicken sich dadurch an, Menschenopfer zu bringen.“

Auch die orthodoxe enthielt sich, die Anklage zu unterstützen; ganz im Gegenteil: die bekannten Theologen Kokovzev und Troizki erlaubten der Verteidigung, ihre Unterlagen zu benutzen.

Zar Nikolaus II äußerte seine Befriedigung über den Freispruch: „Offensichtlich liegt ein Mord vor; doch ich bin glücklich, daß Beilis freigesprochen wurde, da er unschuldig ist“.

Von diesem Prozeß erfuhr der 18-jährige Komponist Wladimir Wulfmann von seinem Vater, einem Rechtsanwalt, der aufmerksam die gerichtlichen Ermittlungen verfolgte. In diesem frühen Alter hatte Wladimir bereits viele musikalische Werke verfaßt. Natürlich konnte er ein solches Ereignis im Leben des jüdischen Volkes nicht unberücksichtigt lassen.

Wie üblich in solchen Fällen, wenn ihn irgendwelche interessanten Themen beschäftigten, setzte Wladimir sich ans Klavier, welches im Salon ihres Hauses stand, und begann zu spielen. Das waren seine talentvollen Improvisationen.

Diesmal ergoß sich unter den Fingern des jungen Mannes eine marschähnliche Melodie, welche musikalische Themen von Frohlocken und Freude des jüdischen Volkes enthielt. Der Klang des Marsches war funkensprühend, durchsetzt von der Dur-Tonalität der Freude. Die Komposition, welche an jenem freudigen Tag zustandekam, als der Freispruch von M. Beilis bekannt wurde, nannte Wladimir „Freudenmarsch“. Er wurde in Noten gefaßt und einem Verlag übergeben. Ein paar Tage später waren die Noten gedruckt und kamen in die Musikgeschäfte. Schon bald machte dieses Komposition mit der Widmung für Beilis die Runde fast um die ganze Welt. Man lauschte ihr, spielte sie und sang besonders dort, wo Juden lebten – in Polen, in der Ukraine, in Weißrußland, Rußland, Frankreich, Italien, Deutschland. Dann gelangte der „Freudenmarsch“ nach Amerika und erfreute die Juden, die jenseits des Ozeans lebten.

Die Ausgabe des „Freudenmarsches“ war sehr geschmackvoll aufgemacht. Auf dem Titelblatt waren am Himmel ziehende Möwen[4] abgebildet, welche die Gedankenfreiheit unterstreichen und die Befreiung des Geistes von den Fesseln der antisemitischen Anschuldigung, und die Musik sprühte von jüdischen Melodien, welche der junge Komponist in einer Stimmung aus fröhlichem Übermut und Freude komponiert hatte. Der Marsch ließ keinen Zuhörer gleichgültig.

So manche positive Äußerungen bekam Wladimir zu seiner Komposition zu hören von hochkarätigen Komponisten und Kulturtätigen jener Zeit; jedoch hatte der junge Komponist nicht nur freudige Momente zu durchleben. Auch viel Bitteres gab es. Antisemitische Angriffe brachten viele Leiden und Befürchtungen. Alexei Maximowitsch Gorki, der von diesen Unannehmlichkeiten erfahren hatte, schlug vor, auf eine gewisse Zeit die Widmung des „Freudenmarsches“ an Beilis geheimzuhalten und die Widmung auf sein damals neues Werk „Das Lied vom Sturmvogel“ umzulegen.[5]

 

[1] Einzelheiten siehe Solschenizyn: 200 Jahre… [Band I, Kapitel 10: Zur Zeit der Duma (oder so ähnlich; den genauen Titel in der deutschen Übersetzung kenn ich nicht)]

[2] Nationalistische Gruppierung im Rußland vor der Revolution. Meist benutzt man, in Anlehnung an den sowjetischen Sprachgebrauch, diesen Ausdruck schematisch und abwertend, ohne eine genaue Vorstellung zu haben von der Natur dieser Gruppierung. Alles in allem scheint es sich aber um recht fanatisches, engstirniges Volks gehandelt zu haben.

[3] Zum den genauen Ort des Verbrechens hatte man meines Wissens nur Vermutungen; vermutlich gemeint: der Leichenfundort. Aber ich übersetz es mal so, wie es da steht (r.z.)

[4] Eigentlich waren es Schwalben; aber ich hab es mal so übersetzt, wie es da geschrieben steht (rz)

[5] Hierüber werden wir noch ausführlicher schreiben. Die Widmung des Marsches an den „Sturmvogel“ dürfte in weiteren Kreisen bekannt sein; obigen Aufsatz haben wir, trotz aller Schwächen, veröffentlicht, weil er die kaum bis gar nicht bekannte tatsächliche Entstehungsgeschichte beleuchtet.

 

wulfmann@relikvia.klamurke.com 

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