Reliquie

Warum die Enkelin eines deutschen Soldaten aus der persönlichen Garde von Nikolaus II, nachdem sie jahrzehntelang unter ihrer deutschen Abstammung zu leiden hatte, nicht als deutschstämmig zu betrachten ist

Георгий Адамович Шимбор

Georg Schimbor

Sohn von Adam August Schimbor 1940

 

Georg Schimbor 1958 nach der Rehabilitation

 

Галина Георгиевна Шимбор

Galina Schimbor

Enkelin von Adam August Schimbor 2006

Adam August Schimbor wurde irgendwann zweite Hälfte vorletzten Jahrhunderts irgendwo in Ostpreußen geboren. Da der damalige russische Thronfolger, der sich aus verwandtschaftlichen und vielleicht auch sonstigen Gründen zu Deutschland hingezogen fühlte, ihn, zusammen mit anderen Landsleuten, für seine persönliche Garde auserwählte, blieb er nicht in Ostpreußen, sondern zog nach Rußland, um gewissenhaft in der persönlichen Garde des russischen Thronfolgers, beziehungsweise später des Zaren Nikolaus II, die ihm zugedachte Funktion zu erfüllen. Das ging so lange gut, alsbis die Deutschen und die Russen aus unerfindliche Gründen plötzlich anfingen, aufeinander zu schießen[1]; und da man schon nach Nationalitätsgesichtspunkten aufeinander schoß, wurden denn auch die deutschen Soldaten der persönlichen Garde des Zaren automatisch von Beschützern des Zaren zu Feinden des Zaren bzw. seines Reiches und entsprechend behandelt. Die Garde wurde also aufgelöst, und die feindlichen Gardisten mitsamt Familien in die Verbannung geschickt. Darunter auch jener Adam August Schimbor, dessen Enkelin heute in Tbilissi lebt; und diese Enkelin hat aus gegebenem Anlaß im Mai des Jahres 2006 einen höchstlich interessanten Brief in die Heimat ihres Großvaters geschrieben, aus welchem Brief man interessante weitere Details über das Schicksal jener Familie erfahren kann und der aus diesem und sonstigen Gründen als würdig befunden wurde, hier veröffentlicht zu werden.

Erwähnter Brief ist die Antwort auf ein gleichfalls recht interessantes Schreiben, welches sie aus der Heimat ihres Großvaters von einem dort lebenden Beamten erhalten hatte; und damit das Ganze verständlich wird, bringen wir einleitend ungekürzt und unverändert den Haupttext jenes Schreibens:

 

 

Brief von einem in der Heimat von Galina Schimbors Großvater lebenden Beamten, verfasset am 13. Februar 2006

Sehr geehrte Frau Schimbor,

Ihr Aufnahmeantrag, eingegangen am 08. 08. 2002, wird

abgelehnt.

Begründung:

Ein Aufnahmebescheid wird nur Personen mit Wohnsitz in den Aussiedlungsgebieten erteilt, die nach Begründung des ständigen Aufenthalts im Geltungsbereich des Gesetzes die Voraussetzungen für eine Anerkennung als Spätaussiedler erfüllen (§§ 27 Abs. 1, 4-6 BVFG).

Diese Voraussetzungen erfüllen Sie nicht.

Wer Anerkennung als Spätaussiedler finden will, muß deutscher Volkszugehöriger sein.

Nach § 6 Abs. 2 S. 1 BVFG ist derjenige, der nach dem 31. 12. 1923 geboren wurde, - neben weiteren Voraussetzungen - deutscher Volkszugehöriger, wenn er von einem deutschen Staatsangehörigen oder deutschen Volkszugehörigen abstammt und sich bis zum Verlassen der Aussiedlungsgebiete durch eine entsprechende Nationalitätenerklärung oder auf vergleichbare Weise nur zum deutschen Volkstum bekannt oder nach dem Recht des Herkunftsstaates zur deutschen Nationalität gehört hat.

Die Frage, ob Sie ein Bekenntnis zum deutschen Volkstum abgegeben haben, ist hier allein nach der ersten Alternative dieser Vorschrift zu beurteilen. Denn für die Eintragung der Nationalität in Ihren ersten Inlandspass war eine Erklärung erforderlich.

Nach den Verordnungen über das Paßsystem in der ehemaligen UdSSR mußten vom 16. Lebensjahr an alle Bürger einen Pass besitzen. Dieser Pass mußte beantragt werden. Das Antragsformular mußte vom Antragsteller unterschrieben werden. Daraus ergibt sich, dass die Eintragung der Nationalität auf Wunsch bzw. mit der Zustimmung des Antragstellers erfolgte.

 Laut Mitteilung der deutschen Botschaft Tiflis vom 18. 01. 2006 wurden Sie in Ihren sowjetischen Inlandspässen mit russischer Nationalität geführt.

Sie haben also selbst darüber entschieden, nicht der deutschen Volkszugehörigkeit angehören zu wollen, und ließen die russische Nationalität in Ihren ersten Inlandspass eintragen.

In der Angabe einer anderen als der deutschen Nationalität gegenüber amtlichen Stellen liegt aber grundsätzlich ein die deutsche Volkszugehörigkeit ausschließendes Gegenbekenntnis zu einem anderen Volkstum.

Dieses Gegenbekenntnis ist auch nicht nach § 6 Abs. 2 S. 5 BVFG unerheblich, weil die Erklärung zur deutschen Nationalität durch die Angabe des deutschen Volkstums bei der Ausstellung des ersten Inlandspasses mit schwerwiegenden beruflichen oder wirtschaftlichen Nachteilen verbunden gewesen wäre und Sie zwangsläufig Ihr Wahlrecht so wie geschehen hätten ausüben müssen. Es trifft nicht zu, dass ein Bekenntnis zum deutschen Volkstum damals zu gravierenden Benachteiligungen im gesellschaftlichen Leben geführt hätte.

Sie erfüllen daher nicht die Voraussetzungen des § 6 Abs. 2 BVFG.

Sie können daher nicht als Spätaussiedler gem. §§ 4-6 BVFG anerkannt werden.

Ihr Antrag ist daher abzulehnen.

 

 Antwortschreiben von Galina Schimbor auf oben wiedergegebenen Brief, verfasset Im Mai des Jahres 2006

Sehr geehrter Herr X,

Am 12.05.2006 wurde mir in der deutschen Botschaft in Tbilissi Ihr Bescheid vom 13.02.2006 ausgehändigt, welcher mich in höchstem Grade irritierte.

Im ersten Absatz erwähnten Schreibens zitieren Sie §§27 Abs. 1, 4-6 BVFG, laut welchem ich, wie Sie schreiben, die Voraussetzungen für eine Anerkennung als Spätaussiedler nicht erfülle.

Genau vor fünf Jahren wandte ich mich an die zuständige Person in der deutschen Botschaft mit der Erklärung, daß ich eine ethnische Deutsche bin, Tochter eines 1958 rehabilitierten Deutschen, der, nach Paragraph 58 des Sowjetischen Strafgesetzes (Volksfeind) verurteilt, von 1942 bis 1945 in der Arbeitsarmee im Konzentrationslager Werchaturje im nördlichen Ural untergebracht war. – Man händigte mir ein Antragsformular aus zum Ausfüllen sowie die entsprechende Anleitung; und in dieser Anleitung stand nichts von den von Ihnen erwähnten Paragraphen. Gleichzeitig wurde mir damals empfohlen, Unterlagen einzureichen, welche die Tatsache belegen, daß wir auf Grundlage des berüchtigten Erlasses vom 10. Oktober 1941 Repressionen ausgesetzt waren und aus der Stadt Baku (Aserbaidshan) nach Kasachstan deportiert wurden.

Als es nun vor fünf Jahren darum ging, diese Unterlagen zu beschaffen, war ich Georgische Staatsbürgerin, und die Archive, in welchen diese Unterlagen vermutet wurden, befanden sich in einem anderen Land (da bekanntlich die Sowjetunion inzwischen in eine Reihe einzelner Staatengebilde zerfallen war), und die Suche nach diesen Unterlagen gestaltete sich recht mühsam. Doch die Mühen waren von Erfolg gekrönt, und, wie Ihnen bekannt sein dürfte, konnten am 08.08.2002 sämtliche benötigte Dokumente in Ihrer Behörde registriert werden.

Ein Jahr später wurden in der Botschaft meine Kenntnisse der deutschen Sprache geprüft; und auch jetzt erwähnte man mit keinem Wort die von Ihnen angeführten Paragraphen.

Im Mai 2004 wurde mir in der deutschen Botschaft Ihr Brief vom 17.03.2004 ausgehändigt mit einer Reihe von Fragen auf die ich umgehend antwortete. Meine Antworten schickte ich Ihnen per Post, und später gab ich zusätzlich noch Kopien in der deutschen Botschaft ab.

Im November 2005 erhielt ich eine Mitteilung von Herrn Y, aus welcher hervorgeht, daß mit einem Schreiben vom 03.06.2004 noch weitere Fragen an mich gestellt werden; doch ein solches Schreiben wurde mir nie übergeben. Als Antwort auf eine Nachfrage vom 09.11.2005 teilte ich mit, daß ich infolge von Komplikationen bei der ersten Geburt keine Kinder habe, und daß mein sowjetischer Paß bei der Annahme der Georgischen Staatsbürgerschaft vernichtet wurde. Auch übermittelte ich den Bescheid des Gerichts der Republik Georgien, darin ich als Opfer der politischen Repressionen anerkannt werde; und dieser Bescheid wurde Ihnen von Frau Z per Fax zugeschickt.

Doch dieser Bescheid wurde von Ihnen nicht berücksichtigt, und die Begründung für die Ablehnung laut § 6 Abs. 2 S. 1 BVFG stützen Sie auf von der Deutschen Botschaft erhaltene  Informationen, laut denen in meinem ersten sowjetischen Paß in dem berüchtigten fünften Punkt (der Ende der vierziger Jahre in Zusammenhang mit dem sogenannten „Prozeß gegen die Kosmopoliten“ eingeführt wurde) als Nationalität „Russisch“ angeführt ist. Vorher gab es in der Sowjetunion keinen solchen Punkt; aus welchem Grunde sowohl bei meinen Eltern als bei ihrem Kind keinerlei Nationalität angegeben ist. Und auch früher, im russischen Reich, wurde keine Nationalität angegeben, sondern nur das Glaubensbekenntnis.

Mein Großvater, Adam August Schimbor, war von lutheranischem Glaubensbekenntnis. Er diente in der persönlichen Garde des Zaren Nikolaus II, welche aus Bürgern Ostpreußens bestand, die von dem Zaren vor seiner Thronbesteigung, noch als Kronprinz, persönlich ausgewählt worden waren. 1915 wurden wegen des Kriegs alle Mitglieder dieser Garde in die russische Provinz deportiert; und darunter auch die gesamte Familie meines Vaters, der damals 3 Jahre alt war.

Auf dem Weg in den Kaukasus starben meine Großeltern an der Pest, und die älteren Geschwister zogen die jüngeren auf; zuerst im Kaukasus, und später in der deutschen Wolgarepublik. Hier absolvierte mein Vater seine Schulbildung und wurde Bauingenieur. In Baku lernte er meine Mutter kennen, die dort arbeitete, und sie heirateten dort.

Im Jahre 1941 wurde meine Familie von einer zweiten Repressionswelle erfaßt. Alle – und auch ich, als einjähriges Kind – fanden sich wieder in der Kasachischen Steppe bei 30 Grad Kälte; wir lebten mitten in der Steppe in Erdhütten; es heißt, daß fast alle Kinder und alte Leute wegstarben. Doch ich überlebte, da meine Eltern jung waren, energisch und geschickt. Doch dann kam die dritte Welle – die Männer wurden in die Arbeitsarmee in den nördlichen Ural gesteckt; meine Mutter ließ man bei den Bauarbeiten von Kolchose-Gebäuden, und ich blieb vor dem Internat bewahrt, wo man den Kindern neue Namen und Nachnamen verpaßte. Nach Kriegsende wurde mein Vater zu zehn Jahren ohne Recht auf Briefwechsel verurteilt; was vor dem Krieg gleichbedeutend war mit Erschießung, aber nach dem Krieg – nach Ende der Lagerhaft Arbeit im GULAG ohne Recht, sich weiter als 50 km zu entfernen. Solcherart wurde ich mit fünf Jahren zur Tochter eines Volksfeinds. Meine Mutter wurde nach Karaganda geschickt, wo sie am Bau von Industrieobjekten arbeitete. 1946 kam meine Tante – die Schwester meiner Mutter – nach Karaganda, die nach ihrem 1937 repressierten Mann suchte (wie sich später herausstellte, wurde er bereits 1940 erschossen). Es gelang ihr, mich heimlich nach Tbilissi zu meiner Großmutter zu bringen.

Meine Großmutter nahm ein sehr großes Risiko auf sich. Nicht nur, daß sie eine Deutsche versteckte, die Tochter eines Volksfeinds, sondern sie bewahrte darüber hinaus dem Kinde seinen Familiennamen, das heißt seine nationale Identität. – So lebten wir unter dem Damoklesschwert, daß man mich jeden Moment ergreifen und in ein Speziallager für Kinder von Volksfeinden internieren konnte. Doch niemand verriet uns; im Gegenteil, man behandelte das tuberkulosekranke Kind, gab ihm Unterricht, beschützte es; obwohl das schreckliche Jahre waren; ein Moment, als eine Wiederholung des Jahres 1937 vorbereitet wurde.

Und eben um diese Zeit sollte ich meinen ersten sowjetischen Paß bekommen. Was konnte man zu einem solchen Moment, wo es ums nackte Überleben ging, irgendwelche Entschlüsse fassen bezüglich künftiger arbeitsmäßiger, wirtschaftlicher oder sozialer Probleme…

Als Ausweg aus dieser fatalen Lage trug meine Großmutter mich unter ihrer eigenen Nationalität ein; jedoch weigerte sie sich nach wie vor kategorisch, den Nachnamen zu ändern.

Solcherart war mein Eintritt ins Erwachsenenleben, in dem ich wiederholt wegen meiner deutschen Herkunft in Mitleidenschaft gezogen wurde. Denn für die sowjetischen zuständigen Behörden war jener von Ihnen monierte Eintrag in meinem ersten Paß bloß ein Feigenblatt.

Hätten Sie irgendwelche andere Gründe gefunden, um meinen Aufnahmeantrag abzulehnen, so wäre das weniger ärgerlich gewesen als das, was Sie, Herr X, in Ihrem Schreiben als Begründung anführen. Als pragmatische und rationalistische echte Deutsche könnte ich Verständnis dafür haben, wenn soziale Schwierigkeiten angeführt würden, aufgrund welcher eine nicht ganz gesunde alte, einsame Frau für die deutsche Gemeinschaft unerwünscht ist; aber die von Ihnen vorgebrachte Formulierung ist mehr als beleidigend.

Wir, die Mitglieder dreier deutscher Generationen, trugen würdig unseren deutschen Nachnamen durch alle Fährnisse hindurch; und eben wegen diesem deutschen Namen trafen uns die Repressionen. – Unsere ganze dramatische Familiengeschichte fand in meinem Antrag und den Ihnen zugestellten Dokumenten detailliert ihren Niederschlag; doch, als hätten Sie das alles gar nicht zu Gesicht bekommen, führen Sie bei Ihrer Ablehnung eine Begründung an, die den Realitäten ins Gesicht schlägt.

Ich würde mir sehr wünschen, von Ihnen eine Antwort auf meinen Widerspruch zu erhalten.

Hochachtungsvoll

Galina Schimbor


 

[1] Im Rahmen jener grandiosen Absurdität, die man gemeinhin als „ersten Weltkrieg“ bezeichnet

 

Raymond Zoller

 

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